Eigentlich war die Lager Kirche im vergangenen Jahr nur ein Ausweichquartier gewesen. Die Kulturpassinitiative Neuenhaus hatte einen Abend mit dem “Amstel Quartett” kurzfristig dorthin verlegt. Dann erwiesen sich aber Ambiente und Akustik als derartig gut, dass für dieses Jahr ein regelrechtes kleines Kammermusik-Festival in der Lager Kirche angeboten wurde.
Am Freitagabend konzertierte der weltberühmte Cellist Anner Bijlsma. Der vielfache Preisträger und einstige Solocellist des Concertgebouw-Orchesters ist in der Phase der Wiederentdeckung der historischen Aufführungspraxis durch seine Zusammenarbeit unter anderem mit Gustav Leonhardt und Frans Brüggen allgemein bekannt worden. Im Januar dieses Jahres hat die französische Musikzeitschrift “”Diapason”” Bijlsmas letzte CD-Aufnahme der Bachschen Cellosuiten zur bedeutendsten aller Zeiten gewählt.
Drei dieser Solosuiten trug Bijlsma in seinem Lager Konzert vor. Diese Werke galten der öffentlichen Meinung lange Zeit als eher kurios denn bedeutend. An Popularität konnten sie es mit den Solosonaten für Violine nicht aufnehmen, obwohl alle großen Cellisten sich daran versucht hatten. In den vergangenen Jahren hat sich diese Einschätzung geändert. Wer am Freitag Bijlsmas Konzert miterleben durfte, wird den Grund dafür verstehen. In einer kurzen Werkeinführung hatte der Solist den Zuhörern die notwendigen Hörhilfen vermittelt. Der Reiz der Bachschen Werke für ein einzelnes Streichinstrument liegt ganz allgemein darin, dass komplexe musikalische Formen und Inhalte mit einem Minimum instrumentaler Möglichkeiten zu gestalten sind.
Während aber zum Beispiel auf der Violine eine vierstimmige Fuge mit Hilfe von Doppelgriffkombinationen technisch noch realisierbar ist, scheidet diese Möglichkeit für das Cello wegen der größeren Distanz zwischen den Saiten aus. Hier ist die vollendete Mehrstimmigkeit nur im Kopf des Hörers vollständig zu realisieren. Der Solist kann die Klangkombinationen nur andeuten.
Bijlsmas Staunen erregende Musikalität und technische Fertigkeit wirkten auf den Zuhörer überwältigend. Gleich das einleitende Prélude der Suite Nr. 1 G-Dur, das mit einfachen musikalischen Mitteln beginnt, lässt den Hörer einen Orgelpunkt auf G empfinden. Doch entschwindet die Konventionalität des Anfangs immer mehr. Chromatik entfährt aus der trügerischen Sicherheit. Was Bach hier schrieb und was Bijlsma gestaltet, das sind im Kern Sonaten und Sinfonien.
Im Prélude der 3. Suite vergeht dem Hörer zusehends Hören und Sehen bei der technischen Meisterschaft. Im Prélude der 5. Suite c-Moll schließlich vermeint man eine romantische Sinfonie vom Kampf gegen ein tragisches Schicksal zu vernehmen. Nicht zu fassen ist, wie Bach das schlichte Froberger’sche Suitenschema mit seiner Abfolge konventioneller Tänze zum Anlass nimmt, Stimmungen und ihre Verarbeitung zu gestalten. Bijlsmas Musizieren fährt den Zuhörer durch einen Kosmos von emotionalen Erlebnissen, von der derben Kneipenseligkeit der Gigue in der Nr. 1 bis zur trostlosen “Winterreisen” – Verlassenheit in der Sarabande der Nr. 5.
Obwohl in diesem meisterhaften Vortrag eigentlich musikalisch schon alles gesagt war, war der Solist doch zu Zugaben bereit. Noch einmal das 1. Prélude vom Anfang. Seit über 50 Jahren versuche er diese Musik zu verstehen, sagte Bijlsma. Und was geschah? Man glaubte ein völlig neues Stück zu hören.