“Aus meinem Leben” hat die große Hanna Schygulla am Freitagabend vor großem Publikum im Neuenhauser Schulforum gesungen und erzählt. Diese Biographie weckte bei vielen Zuhörern vertraute Erinnerungen, aber mit Erinnerungen allein ist diese Frau nicht zu fassen. Es ist die Ambivalenz, die ihr Wesen ausmacht. Sie selbst bezeichnet sich als Grenzgängerin.
In Oberschlesien ist sie geboren, die Namen der Eltern verweisen auf slawische Herkunft. Und als Deutsche lebt sie eben nicht in Deutschland sondern in Paris. Schon ihr erster Au-pair-Aufenthalt in der französischen Hauptstadt scheint bestimmend für ihr Leben gewesen zu sein. Schygulla macht die Ambivalenz auch äußerlich deutlich. Vor der Pause ist sie schwarz gekleidet und hat das Haar streng nach hinten frisiert, nach der Pause überwiegt die Farbe Rot, das Haar ist offen, das Gesicht wirkt gelöst. Als “Traumfrau” hat man Hanna Schygulla bezeichnet und damit auf ihre oft rätselhaften Frauenporträts in den Faßbinder-Filmen verwiesen. Aber der Traum ist auch ein durchgehendes Thema in ihrem biographischen Abend.
Deshalb beginnt sie ihn zu Verwirrung des Publikums aus dem Off mit Eichendorffs “Schläft ein Lied in allen Dingen”. Auch der Traum ist ja ein ambivalentes Phänomen. Träume können Aufbrüche erzeugen, aber es gibt eben auch rückwärts gewandte Träume. Als Beispiel dafür singt sie aus ihren Kriegs-Kinderjahren “Wochenend und Sonnenschein”. Und sie gibt als Zugabe die berühmte “Lili Marleen”, ein Lied, das zugleich fasziniert und eine bedrückende Gänsehaut erzeugt.
Träume vermitteln Ausbruchserfahrungen wie im “Summertime” der Schülerin an der Isar und tröstende Illusionen wie in ihrer höchst sensiblen Interpretation von Mahlers Kindertotenlied “Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen”.
Dem Flüchtlingsdasein in der bayerischen Provinz, charakterisiert durch Kinderlieder, folgt der Aufbruch, zunächst in der Faszination der Zirkuskinder, dann in der Begegnung mit dem Rock ‘n’ Roll. Die musikalischen Zitate von Elvis Presley und Bill Haley wirken nicht allzu überzeugend, sind aber wohl auch eher parodistisch gemeint. Wie wichtig der Paris-Aufenthalt für ihre Entwicklung ist, zeigt sich an der eindringlich-perfekten Interpretation französischer Chansons, besonders im Piaf-Medley.
Nach der Pause steht dann Schygullas Filmkarriere im Mittelpunkt. Die Leitmelodien der 1970er Jahre mit Titeln der Stones und Bob Dylans bleiben zunächst etwas blass, aber mit “Me and Bobby McGhee” ist sie wieder ganz bei sich. Ihre Altersgenossin Janis Joplin hat ihr das Gefühl der Freiheit vermittelt. “Freedom’s just another word for nothing’ left to lose” wird Schygulla zum Leitmotiv.
Sie bricht Studium und Schauspielschule ab und arbeitet mit Rainer Werner Fassbinder. Sie spielt in allen seinen Filmen. Fassbinders Motto “Life is very precious even right now” verweist wieder auf die Bedeutung der Träume im Leben. Nach Fassbinders Tod steht Hanna Schygulla eine Weltkarriere offen. Aber sie zieht sich zurück und pflegt die kranken Eltern bis zu deren Tod. Einen neuen Aufbruch gibt es für sie, als Gabriel Garcia Marquez sie zu Dreharbeiten nach Kuba verpflichtet. Lateinamerika steht deshalb am Schluss des Programms. Ihre spanischen Chansons sind wie die französischen von besonderer Eindringlichkeit. Und als sie von der Zusammenarbeit mit der brasilianischen Sängerin Maria Bethnia erzählt und singt, da spürt das Publikum: Diese große Dame ruht ganz in sich selbst, und gerade deshalb kann sie so beeindruckende Emotionen erzeugen. Alle Lieder begleitete Stephan Kanyar einfühlsam und aufmunternd zugleich am Flügel. Langanhaltender Beifall war Ausdruck des Dankes für diesen großen Abend.