Neuenhaus. So kennt man Urban Priol: Der grau gewordene Haarkranz, das bunte Shirt, diesmal mit Fischen dekoriert, die engen Jeans, die Turnschuhe. Aber man kennt ihn sonst nur aus dem Fernsehen. Am Freitagabend steht er beim Kulturpass auf der Bühne. Das Haus ist ausverkauft, die Rückwand des Forums musste geöffnet werden, um die vielen Besucher unterzubringen. Auf der Bühne die bekannten Requisiten, ein Stehpult und ein Tisch mit Stuhl. Mit dem traditionellen Glas (alkoholfreien) Weizenbier in der Hand bittet er um Rücksicht, ein Manuskript benutzen zu müssen. Denn das Programm ist ja „Im Fluss“ betitelt. Und so wie Politik und Gesellschaft sich im reißenden Fluss befinden, ist es natürlich schwer, ganz ohne Gedankenstütze täglich aktuell zu bleiben. Denn das zeichnet diesen Meister der pointierten Sprache besonders aus: Er ist über laufende Ereignisse ebenso perfekt informiert wie über aktuelle Strömungen. Unglaubliche 160 Minuten lang prasseln die Pointen auf das Publikum ein. Gelegentlich ist auch ein Kalauer dabei, aber die Pointen sind stets treffsicher und werden vom begeisterten Publikum mit ständigem Szenenapplaus begleitet. Eine seiner Spezialitäten ist die Stimmenparodie, die ebenso stürmisch beklatscht wird. („Nur Olaf Scholz kann man nicht nachmachen, da müsste man Pantomime können“). Priol genießt ganz offensichtlich diese Interaktion mit den Zuhörern und bezieht sich immer wieder auf die zurückliegende echolose Zeit der Pandemie. Das damals empfohlene Streaming sei für Kabarettisten höchst frustrierend gewesen.
Ganz im Sinne des Horazischen „Lachend die Wahrheit sagen“ spießt Priol die sprachlichen Verirrungen anmaßender Politiker auf, arbeitet sich immer noch an seiner Lieblingsgegnerin Angela Merkel ab, fordert immer wieder Vernunft statt Verdummung. Klar akzentuiert er, wie das geringe Ansehen der derzeitigen Ampelregierung auch Ergebnis einer gezielten Medienkampagne ist. Dahinter steht das ernste Problem, dass in Zeiten der „sozialen“ Medien die Pushnachricht größere Wirkung hat als journalistische Recherche. Am Beispiel des Leserforums von „Welt online“ zeigt er auf, wie heute Stammtischparolen ganz schnell den Weg über das Netz in die Öffentlichkeit finden.
Und natürlich löst er sich immer wieder vom Stehpult und springt über die Bühne, lässt in seinen Aschaffenburger Redefluss bayerische Politparolen einfließen, spricht nicht nur mit der Stimme, sondern mit dem ganzen Körper. Freilich kann es bei seinem überlangen Auftritt keinen eigentlichen Spannungsbogen geben. Dennoch wird es nie langweilig. Wohl nicht zufällig zeichnet er die eigene Jugendzeit der siebziger Jahre in vergoldetem Licht und stellt sie der Misere der Gegenwart gegenüber. „Heute fahren die Rentner zum Stones-Konzert und Jugendliche himmeln Florian Silbereisen an.“ Das ist natürlich in einer Zeit von Fridays for Future übertrieben; denn immerhin „blicken ja die Franzosen neidisch auf unsere augenblickliche Streikbereitschaft“. Aber von derartigen konstruierten Gegensätzen lebt ja der Erfolg seines Programms.
Es ist schon 23 Uhr, als er sich unter tosendem Beifall verbeugt und ein eher resignativ wirkendes Schlusswort anfügt. Darin aber ruft er zur Unterschrift unter die im Forum laufende Protestaktion von Amnesty International zum Todesurteil gegen den Deutsch-Iraner Djamshid Sharmahd auf und mischt sich anschließend unter das zahlreiche Volk. „Ein frisches Getränk ist doch besser als warmes alkoholfreies Weizenbier“.
Vor Beginn der Veranstaltung lief auf der großen Leinwand ein beeindruckender Videofilm „30 Jahre Kulturpass“. Eine wahre Hall of Fame!