Elisabeth Leonskaja

Elisabeth Leonskaja bietet musikalische Sternstunde. Überwältigendes Klavierkonzert in Neuenhaus. Stegmann-Zwillinge stellen ihr großes Talent unter Beweis"

Die gemeinsamen Konzerte von Kulturpass Neuenhaus und Bürgergemeinschaft Emlichheim waren schon immer kulturelle Höhepunkte. Zu einer Sensation aber wurde am Sonntagabend der Auftritt der weltberühmten georgischen Pianistin Elisabeth Leonskaja. Nach einem seit Wochen ausverkauften Konzert in Paris machte sie auf dem Rückweg in ihre Heimatstadt Wien einen Abstecher nach Neuenhaus und gab im überfüllten Forum ein Benefizkonzert für Amnesty International, das die Zuhörer zu wahren Begeisterungsstürmen animierte.

Das Vorprogramm des Abends war eine Wiederbegegnung mit zwei jungen alten Bekannten. Schon seit Jahren hatten Karolin und Friederike Stegmann aus Lingen in den Konzerten ihres Lehrers Carmelo Reggianis Aufsehen erregt. Jetzt traten die 19-Jährigen nach ihrem Sieg im Bundeswettbewerb “Jugend musiziert” 2006 erneut als Klavierduo auf. Ihr fulminanter Vortrag des Allegro agitato aus Czernys “Grande Sonate brillante” ließ eine verblüffende Fertigkeit in der interpretatorischen Abstimmung erkennen. Diese stellten sie noch einmal in den Variationen über das bekannte Paganini-Thema von R.W. Smith unter Beweis. Dabei sind die beiden nicht zur außergewöhnliche Pianistinnen. Gegenseitig begleitete jede die andere als Flötensolistin in zwei kleinen Werken des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Und dann kam die große Leonskaja! Bescheiden, fast scheu betritt sie die Bühne. Doch vom ersten Arpeggio an nimmt sie das große Publikum trotz der sommerlichen Hitze in ganz ungewöhnlicher Weise gefangen.

Vor der Pause gestaltete sie zwei große Schubertwerke, den Zyklus der vier Impromptus op. 142 und die a-moll Sonate op. 143. Wer immer mit den Impromptus und ihren eingängigen Themen vertraut zu sein glaubte, hier konnte er diese Vertrautheit vergessen. Elisabeth Leonskaja spielte diese vier Sätze gleichsam gegen die Tradition. Immer wieder hebt sie scheinbare Nebenlinien hervor, arbeitet stark mit dem rechten Pedal, variiert in bewunderungswürdiger Weise den Anschlag und lässt auf diese Weise Schubert als zukunftsweisenden Komponisten neu erstehen. Da lassen plötzlich gewisse Linien Mussorgsky und Brahms vorausahnen. Und für die Zuhörer lässt die Spannung keine Sekunde nach: Diese Frau muss in jedem Augenblick die gesamte Disposition des Zyklus im Kopf haben, sonst könnte sie die Werke nicht so eindrucksvoll gestalten.

In fast noch stärkerer Weise beeindruckt sie mit der großen a-moll Sonate. Dieses Werk des 26-Jährigen stellt die entschiedene Abkehr von der bisherigen Sonatentradition dar. Er arbeitet nicht mehr wie Beethoven mit gegensätzlichen Themen, sondern lässt die gesamte Komposition aus einer einzigen Keimzelle heraus erwachsen. Das einleitende Motiv des ersten Satzes mit der leeren Quinte ist sparsam und fahl mit einem schlichten Abgang. Solche Motive hat später erst Anton Webern gewagt.

Aber wie die Pianistin diesen Satz, der auf jede technische Brillanz verzichtet, ausarbeitet und das Motiv in musikalische Höhepunkte hinein ausgestaltet, das ist im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Das gilt in gleicher Weise für das balladenhafte Andante. Leonskaja fährt in ständiger Steigerung das Motiv in neue harmonische Weiten, gleicht dynamisch aus und fährt so den Hörer in die Sphäre absoluter Musik. Der dritte Satz ist virtuoser angelegt, aber auch hier stehen die Triolenläufe stets im Dienst des Gesamtwerks.

Nach der Pause lässt die Meisterin die Sonate von Tschaikowskij erklingen. Sie versetzt den Hörer in eine gänzlich andere Welt, fast in eine Chill-Out-Zone. Hatte die Schubertsonate in einen fernen musikalischen Kosmos eingeladen, so wirkt Tschaikowskijs Komposition wie ein Appell an die Zuhörer. In ihrer Ausgestaltung sind die Sätze klar voneinander getrennt. Massige Akkorde im Allegro giusto, ein aufgehelltes melancholisches Andante, ein lebhaftes Scherzo und ein wirbelndes Finale. Und das alles mit Meisterschaft an Virtuosität und Intelligenz dargeboten. In der Sendung “Diskotabel” des niederländischen Rundfunks analysieren drei strenge Kritiker schonungslos neue CDs. Nach der Veröffentlichung von Leonskajas Einspielung der späten Brahmswerke im vergangenen Jahr waren sie sich ausnahmsweise einig. Sie urteilten: “Besser kann ein Mensch nicht Klavier spielen!” Davon konnte sich das begeisterte und dankbare Publikum am Sonntagabend in Neuenhaus selbst überzeugen.

Text: Jörg Leune, Fotos: Gerold Meppeling (Die Fotos wurden während der Proben aufgenommen.)