Igor Levit

Brillante Technik und höchste musikalische Intelligenz: Der Pianist Igor Levit spielte Werke von Debussy und Liszt

Selten hat eine Saisoneröffnung des Kulturpasses Neuenhaus einen so nachhaltigen Eindruck hinterlassen wie Igor Levits Klavierabend im vollbesetzten Forum des Lise-Meitner-Gymnasiums. Auf Einladung der Rotary-Clubs Almelo und Bentheim war der gefeierte junge Pianist, der in dieser Saison in den großen Konzertsälen Europas konzertieren wird, am Sonnabend nach Neuenhaus gekommen.

Er spielte im ersten Teil Claude Debussys Zyklus Préludes 1 aus dem Jahre 1910 und nach der Pause eine Auswahl aus den Werken Franz Liszts. In aufschlussreichen Einleitungen erläuterte er kurz den musikhistorischen Stellenwert der Kompositionen. Debussys zwölf Préludes tragen durchweg Titel. Diese aber hat der Komponist den Sätzen nicht als Überschrift vorangestellt, sondern hat sie als Anmerkungen unter den Notentext gesetzt. Sie mögen einen Hinweis auf den Kompositionsanlass geben, keineswegs aber darf man die Préludes als musikalische Bilder verstehen. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um absolute Musik, eine Musik übrigens, die mit allen Konventionen bricht und den Anfang der Moderne markiert. Es gibt keine funktionelle Harmonik mehr, die Rhythmen werden frei, die Melodik hat sich von der Tradition emanzipiert. In beeindruckender Weise führte Levit diesen Zyklus vor. Nur kurz waren die Pausen zwischen den Sätzen.

Die Zuhörer folgten der Interpretation gebannt. Levit formte unter seinen Händen ein Werk von gewaltiger Innenspannung. Die verschleiernden Klänge der auf einer Ganztonleiter aufgebauten “Voiles”, die in sich kreisenden Klänge der “Cathédrale engloutie”, als Abschluss dann die hochartifiziell gestaltete Kneipenmusik der “Minestrels” erweisen Levit als einen Pianisten, der nicht nur technisch ungewöhnlich souverän ist, sondern dem auch die Struktur dieses Höhepunktes der Klavierliteratur in Fleisch und Blut übergegangen ist. Beeindruckend auch der dynamische Spannungsbogen, der von ganz zart hingetupften Bassnoten bis zu gewaltigen Entladungen reicht.

Auch zu seiner Liszt-Auswahl gab Igor Levit einführende Hinweise. Er stellte Liszt als den überragenden, global agierenden Virtuosen dar, der seine Werke im Bewusstsein schuf, aus seiner genialen Subjektivität heraus den schöpferisch tätigen Menschen zu verkörpern. Zugleich sprach er aber auch von der Schwierigkeit, sich in eine solche Persönlichkeit einzufühlen und die Kompositionen angemessen zu gestalten.

Aus Liszts Gesamtwerk hatte Levit sechs Stücke ausgewählt. Aus dem ersten Band der “Années de pélerinage” spielte er “Au lac de Wallenstadt”, ein reines Naturbild. Die linke Hand gestaltet in gleichmäßigen Bewegungen die Oberfläche des Sees, während dazu eine pentatonische Volksliedmelodie erklingt.

Einen einsamen Höhepunkt in Liszts Schaffen bilden die zwölf Études d’exécution transcendante. In seiner Auswahl verzichtete Levit auf die ausgesprochenen Bravourstücke. Er spielte “Vision”, das mit einer eindrucksvollen Introduktion in der linken Hand beginnt und in großen Arpeggien endet, “Harmonies du soir”, ein fast meditatives Stück mit zukunftsweisender Harmonik und anschließend das Schlussstück “Chasse neige”, in dem er den Kampf gegen das Schneetreiben technisch und musikalisch vollkommen abbildet.

Am Schluss des Konzertes stand mit “Isoldes Liebestod” eine von Liszts großartigen Wagner-Paraphrasen. Sie bildete in Levits Wiedergabe einen Höhepunkt des Abends. Es gelang ihm tatsächlich, das Klavier vergessen zu lassen. Man meinte ein Orchester zu hören und Isolde über Tristans Leichnam zusammenbrechen zu sehen. So kongenial Liszts Paraphrase ist, so kongenial war auch Igor Levits Interpretation. Bezeichnend war, wie lange er nach diesem Werk nachsinnend und erschöpft zugleich am Klavier sitzen blieb, ehe ein (zu früh einsetzender) Beifallssturm seine Konzentration abbrach. Für die Standing Ovation des Publikums bedankte der Pianist sich mit einer Debussy-Hommage an Liszt, der genialen “Isle joyeux”, einem musikalischen Bacchanal von höchster Dichte und musikalischer Vielfalt. Dieses Konzert war ein Meilenstein in unserem Musikleben!

Text: Jörg Leune, Fotos: Gerold Meppelink